Mittwoch, 12. August 2015

Die Hartz-Gesetze und das Grundgesetz

Seit einer guten Weile will ich einen Post über das Urteil des Gothaer Sozialgerichts in Sachen Hartz IV schreiben. Aber so richtig fiel mir nichts dazu ein. Einerseits sollte ich erfreut sein, schließlich gibt es jetzt eine höchstrichterliche Bestätigung dessen was ich und viele andere, ob betroffen oder nicht, schon lange wussten: Hartz IV Sanktionen sind ein Verstoß gegen die Menschenwürde und damit verfassungswidrig. Auf der anderen Seite sind die Gothaer Richter nicht das Bundesverfassungsgericht und unmittelbar ändern wird sich durch dieses Urteil erst einmal überhaupt nichts.

Nichtsdestotrotz ist die oben verlinkte Urteilsbegründung einen sehr genauen Blick wert (nein wirklich, lest euch da mal rein), denn die dort aufgeführten Punkte müssten eigentlich endlich zu einem Umdenken in den JobSanktionscentern führen. Meine Hoffnung, dass es tatsächlich soweit kommt ist allerdings eher gering. Sich auf die Menschenwürde berufen sorgt bei den Sachbearbeitern vor Ort höchstens für ein müdes Lächeln. Die fühlen sich nämlich nicht ans Grundgesetz gebunden, sondern meist (in guter deutscher Tradition) nur an ihre direkten Vorgesetzten und an ihre "Befehle von oben". Hinzu kommt dann noch ein Gutteil an menschlicher Niedertracht und/oder Angst um den eigenen Job und als Ergebnis haben wir dann den momentanen Ist-Zustand.

Wenn ein Hartzer an der "Info-Theke" nach einem Termin fragt und abgewiesen wird weil er "nach Knoblauch stinkt" und sich "erstmal waschen" soll(*), dann nützen alle Verfassungs- und Sozialrechtlichen Urteile wenig. Wir Hartzer sind in den Augen eines Großteils der deutschen Öffentlichkeit ausnahmslos alles Schmarotzer, die den hart für ihren Sklavenlohn arbeitenden Menschen unnütz auf der Tasche liegen. Das wird sich auch nicht ändern, wenn wir nichts dagegen tun. Wir müssten beginnen uns in Massen zu weigern die Gängeleien unserer Aufseher und Verwalter mitzumachen. Keine sinnlosen Maßnahmen mehr antreten, keine Zeitarbeitsjobs annehmen, die einem bei 40 und mehr Wochenarbeitsstunden einen Lohn einbringen, der knapp über (oder knapp unter) Hartz IV Niveau liegt. Wir müssten damit beginnen massenhaft und laut Menschen wie Ralph Boes zu unterstützen, der seit Jahren für unser aller Rechte kämpft. Ich möchte mich hiermit ausdrücklich mit Ralph solidarisch erklären und ihm für seine Bemühungen meinen Dank aussprechen.

Die Tatsache allein, dass es eben nicht für jeden in Deutschland Arbeit geben kann, sollte ausreichend sein um auf alle Sanktionen laut SGB II zu verzichten. Allein das Vorhandensein des Artikels 1, Absatz 1 im deutschen Grundgesetz reicht in Verbindung mit Artikel 20 aus um eine Unrechtmäßigkeit aller Sanktionen laut SGB II mehr als deutlich zu machen. Wenn ich, aus welchen Gründen auch immer, nicht dazu in der Lage bin meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, dann ist der Sozialstaat laut Grundgesetz dazu verpflichtet mir ein menschenwürdiges Existenzminimum zur Verfügung zu stellen. Da der Gesetzgeber in seiner unendlichen Weisheit beschlossen hat, dass der aktuelle Regelsatz das Existenzminimum ist, sollte es rechtlich gesehen nicht möglich sein diesen durch Sanktionen weiter einzuschränken. Zur Erinnerung:
Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit... (via LinkeZeitung)
Grundgesetz, Artikel 1, Absatz 1: 
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Artikel 2, Absatz 2
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Artikel 20, Absatz 1
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

und, nur der Vollständigkeit halber:
Artikel 12
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Abgesehen von der -angeblich bedingungslosen- Verpflichtung zum Sozialstaat ist für mich besonders der Artikel 12, Abs. 2 interessant, da mir seit Jahren die daraus erwachsenden Rechte vorenthalten werden. Ich sollte wiederholt (unter Androhung des teilweisen oder gar vollständigen Entzugs des mir eigentlich zustehenden Existenzminimums) dazu gezwungen werden, eine Arbeit auszuüben, die mir zuwider ist und mich für einen Hungerlohn von irgendwelchen modernen Sklavenhaltern (aka Zeitarbeitsfirmen) prostituieren lassen. Meine Weigerung dies zu tun führte zur Sanktionierungen bis zu einer Höhe von 60 % des Regelsatzes, welcher doch, wenn schon nicht rechtlich bindend, so doch zumindest faktisch das Existenzminimum festlegt. Zum Anfang war ich sogar noch dumm genug die mir vorgelegten Eingliederungsvereinbarungen zu unterschreiben, womit ich einen rechtlich bindenden Vertrag mit den Sanktionscentern einging. Dies in der irrigen Annahme, dass die dort arbeitenden Menschen mir tatsächlich helfen könnten, wenn ich mich nur an ihre Regeln halten würde. Das änderte sich allerdings recht schnell. Heute unterschreibe ich da nichts mehr und lasse mir alles per Verwaltungsakt zuschicken, das ist im Zweifel wenigstens anfechtbar.

Die Hartz-Gesetze sind de facto eindeutig Grundgesetzwidrig und gehören dringend überarbeitet und entschärft. Es ist ja auch nicht so, dass kein Geld für eine verfassungsgemäße Änderung des Sozialrechts und die daraus folgenden Kosten vorhanden wäre. Schafft die rund 350 Sanktionscenter ab, zwingt die Betriebe mit Hilfe eines vernünftigen gesetzlichen Mindestlohns dazu, ihre Mitarbeiter anständig zu bezahlen, schafft die Subventionierung des Niedriglohnsektors ab (der für einen großen Teil der jährlichen Kosten im Sozialsektor verantwortlich ist), und streicht vielleicht noch den Verteidigungshaushalt von jährlich über 30 Milliarden Euro auf ein vernünftiges Maß zusammen und ihr werdet sehen, da bleibt am Ende noch was übrig. Ich habe jetzt keine Lust hier irgendwelche Rechenbeispiele zum Besten zu geben, aber selbst das dämlichste Milchmädchen kann erkennen, dass der aktuelle Zustand uns gesamtgesellschaftlich mehr kostet als ein Modell, welches einem der reichsten Länder der Welt imho angemessener wäre.

Doch kommen wir von meinen schrägen Ideen noch einmal zurück zum Gothaer Urteil. Die Urteilsbegründung liefert ein wahres Füllhorn an Argumenten für interessante Diskussionen mit den Sachbearbeitern und Fallmanagern und wie die ganzen Jobcenter-Drohnen sich sonst so nennen. Ich darf "kurz" zitieren:
Seite 15, f:1.Leistungskürzungen gemäß §§ 31 ff. SGB II verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG (a). Sie verletzen zudem die negative Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG (b) und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (c).

a) Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art.1 Abs.1 i.V.m. Art.20 Abs.1 GG [...]. Es handelt sich um ein verfassungsunmittelbares Leistungsgrundrecht [...]. Dieses Grundrecht ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden“ (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Rn 133). Es folgt aus Art.1 Abs.1 GG und hat „als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs.1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.“
Schön ist auch dieser Absatz auf Seite 20:
Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S. 134 ff., 137), der, in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet sein muss.“ (Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55).
Und weiter heißt es auf Seite 22:
Von der Intention des Gesetzgebers, mit den Regelsätzen des SGB II gerade das menschenwürdige Existenzminimum zu sichern, geht auch das Bundesverfassungsgericht aus: „Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“ (BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Rn 126).
 Auf Seite 26 steht:
Bei den Sanktionsnormen handelt es sich auch nicht um einen zulässigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG. Es ist von Verfassung wegen verwehrt, existenzsichernde Leistungen – von denen nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 und auch angesichts des Beschluss des BVerfG vom 23.07.2014 nicht ohne weiteres als gesichert gelten kann, dass sie das Existenzminimum gänzlich und vor allem zukünftig decken, trotz nachgewiesener Bedürftigkeit durch die Verwaltung im Einzelfall zu kürzen. Im Gegenteil verlangt Art. 1 Abs. 1 GG, der „die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme schützt, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall sichergestellt wird.“ (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Rn 205).
Ich könnte noch etliche weitere Passagen zitieren, die aber alle auf das selbe, einfache Ergebnis hinauslaufen: Hartz IV Sanktionen sind unrecht. Punkt. Nun könnte ich ausgiebig auf den Behörden-Schergen herum hacken, die sich oft genug nur zu gerne zu den Herren über Wohl und Wehe ihrer "Kunden" aufschwingen. Doch das will ich an dieser Stelle eben nicht machen. Vielmehr will ich meine Mitmenschen, die in den Sanktionscentern arbeiten, zur Solidarität mit den Hartz-IV-Opfern aufrufen. Weigert euch die unmenschliche Sanktionspraxis weiter aufrecht zu erhalten! Sagt euren Vorgesetzten, dass ihr es nicht mit eurem Gewissen vereinbaren könnt auch nur einem weiteren Menschen das Existenzminimum zu verwehren! Droht mit Streik, oder besser noch: sucht euch eine anständige Arbeit, bei der ihr gar nicht erst in die Verlegenheit kommt anderen Menschen Schaden zufügen zu müssen.

Und wenn ich schon bei sinnlosen Appellen bin, gleich noch einer an meine Mit-Hartzer: Wehrt euch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Behörden-Willkür. Kämpft für euer Recht auf ein menschenwürdiges Leben! Lasst euch nicht unterbuttern, lehnt Angebote von den obszönen Zeitarbeitsfirmen Menschenverwertern kategorisch ab. Weigert euch sinnlose Maßnahmen zu machen. Wir sind viele, zu viele um uns einfach weg zu ignorieren. Wenn wir aufstehen und uns wehren, können wir vielleicht etwas ändern und der Gesellschaft ein menschlicheres Antlitz verleihen. Menschlicher als die neoliberale Fratze, die uns in den vergangenen Jahren von den machtgeilen Polit-Clowns aufgezwungen wurde. Werft die unmenschlichen, wirtschaftshörigen Scheißpolitiker von ihrem hohen Ross und nehmt euch euren Staat zurück auf das wir gemeinsam etwas Besseres aufbauen können.

Was wäre es schön wenn auch nur ein Bruchteil meiner Leidensgenossen die Kraft und den Mut aufbrächten endlich etwas zu unternehmen. Leider werden meine Hirngespinste von einer besseren Gesellschaft wohl auf absehbare Zeit genau das bleiben, Hirngespinste. Hier in Deutschland wird es zu keiner Revolution kommen. Das Einzige für das sich ein Großteil der Bevölkerung noch begeistern kann ist Fußball, ficken und vielleicht das neuste Smartphone. Solidarität und Nächstenliebe sind vom Aussterben bedrohte Randnotizen der Geschichte. Aber was solls,
ich mache mir hier Gedanken über unser Grundgesetz und meine Rechte, während tausende von Menschen beim Versuch vom westlichen Wohlstand™ ein bisschen was abzubekommen elendig verrecken. Wenn wir nicht sehr gut aufpassen wird aus dem Volk der Dichter und Denker bald wieder einmal das Volk der Richter und Henker werden. Auch diesmal wieder gesponsort von der Wirtschaft. Der neue Genozid an Europas Grenzen - Mit freundlicher Unterstützung von Coca Cola und BMW.

Okay, stopp. Jetzt schweifen meine Gedanken dann doch viel zu weit vom eigentlichen Thema des Posts ab. Vielleicht liegt es daran dass ich Hunger habe. Ich geb's auf für heute und mache mir erstmal was zu essen. Bis neulich.

(*) Das habe ich selbst so erlebt (vor etwa drei Jahren, mittlerweile haben sie in unserem Sanktionscenter die Info-Theke komplett abgeschafft und durch einen Sicherheitsdienst ersetzt, mit dem ich auch schon einen sehr unerfreulichen Zusammenstoß hatte, aber das ist eine andere Geschichte, die ich später vielleicht erzählen werde). Gut, dem Mann wurde das so nicht ins Gesicht gesagt, aber nachdem er aufs unfreundlichste von dem Schergen abgewiesen wurde und sich getrollt hatte, war das die Begründung, die der Typ seiner Kollegin gab als sie nachfragte warum er den Mann abgewiesen habe. Ich war als nächster an der Reihe, warf dem Kerl sprachlos meinen Weiterbewilligungsantrag auf die Theke und verließ auf schnellstem Weg dieses Vorzimmer zur Hölle.

1 Kommentar:

  1. Danke für diese Zusammenfassung. Ich persönlich hege hier ebenfalls keine Illusionen: Falls das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall überhaupt irgendwelche Beschlüsse fassen sollte - was derzeit eher ungewiss ist -, gehe ich davon aus, dass diese einmal mehr äußerst schwammig und nicht wirklich belastbar, also in der juristischen Auseinandersetzung mit den Behörden des Hartz-Terrors unbrauchbar sein werden. Wenn irgendwer weiß, wie echte, menschenfeindliche Bürokratie funktioniert, dann sind es schließlich deutsche Büttel.

    Ich wäre indes, wie so oft, ein glücklicherer Mensch, wenn ich mich irren sollte.

    Im Übrigen ist das ganze gar keine finanzielle Frage - selbstverständlich könnte ein Staat wie Deutschland sich ein wunderbares Wohlfahrtssystem, das allen Menschen ein auskömmliches, von materiellen Sorgen weitestgehend freies Leben garantiert, "leisten". Es ist die neoliberale Doktrin, die grenzenlose, unstillbare Habgier der wenigen Superreichen, die das verhindern will und von korrupten Politmarionetten gnadenlos und intelligenzfrei umsetzen lässt. Zu diesem Zweck wird in regelmäßigen Abständen immer wieder die hochnotpeinliche Mär vom "zu teuren Sozialstaat" in die Welt posaunt, während die "Elite" unablässig und leistungslos Millionen und Milliarden in ihre überquellenden Geldspeicher karrt.

    Der Hartz-Terror ist nicht das Ende, sondern erst der Beginn einer "neuen" kapitalistischen Menschenfeindlichkeit, deren Verlauf ich hoffentlich nicht mehr erleben muss.

    Liebe Grüße!

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