Mittwoch, 8. April 2015

Guter Tag

Es ist halb zwei Uhr mittags.
Heute ist ein guter Tag. Unter Aufbietung aller Kräfte habe ich den Kampf mit meiner Bettdecke schließlich doch noch gewonnen und stehe auf. Das ist für mich keine kleine Errungenschaft. Es gibt Tage, da gewinnt die Bettdecke und fesselt mich den ganzen Tag an meine Couch. Oder zwei Tage. Manchmal auch länger. Es kam sogar schon vor, dass ich mich eine ganze Woche lang von ihr habe gefangen halten lassen. Bei solchen Gelegenheiten hat die Decke mich so fest in der Mangel, dass sie mich nur zwei-, dreimal am Tag kurz auf die Toilette lässt. Das kann sich ein Außenstehender kaum vorstellen, welche Macht so eine Bettdecke über jemanden haben kann.

Aber heute ist ein guter Tag. Ich gehe ins Bad und will mir anschließend Frühstück machen. Es klingelt an der Tür. Ich überlege kurz ob ich öffnen soll. Um diese Zeit klingelt normalerweise nur der Paketdienst, der eine Amazon- oder Zalando-Lieferung für einen meiner Nachbarn bei mir parken will. Aber es hat zweimal kurz gebimmelt, der DHL-Knecht klingelt einmal lang. Also schlurfe ich zur Tür und öffne. Im Treppenhaus steht mein Nachbar mit einem Jutebeutel. Der Typ ist nicht mein einziger Nachbar, aber der Einzige, den ich einigermaßen ertragen kann.
Er ist so ein Kerl, den andere Leute wahlweise als "echtes Original" oder "verlotterten Suffkopp" bezeichnen. Beides empfinde ich als Frechheit ihm gegenüber. Denn er ist kein Original, Typen wie ihn gibt's überall in Deutschland, man muss nur mal hinschauen. Und er ist ganz sicher kein Suffkopp, denn er hat das Saufen schon vor etlichen Jahren aufgegeben. Er sieht zwar immer noch ein wenig, nun ja, versoffen aus, aber das sind nur Äußerlichkeiten. Und die Spätfolgen von jahrzehntelangem Alkoholmissbrauch. Was man ihm nicht ansieht, dass ist seine Ehrlichkeit und Freundlichkeit. Über meinen Nachbarn und sein Leben könnte man ein Buch schreiben. Über die Misshandlungen in einem katholischen Heim in den 1960ern. Über seine Brüder, von denen es einen in den frühen 90ern nach Russland verschlug, wo er im Knast landete. Und einen anderen, den er mehr oder weniger regelmäßig in einem deutschen Gefängnis besucht, obwohl er ein ziemlich übles Verbrechen verübt hat. Aber ich schweife ab.

Heute ist ein guter Tag. Ich bitte den Nachbarn also herein und er zieht ein Laptop aus dem Jutebeutel, das er irgendwo für ein paar Euro erstanden hat. Ein uraltes Ding von Medion, das schon vor 10 Jahren überholt gewesen ist. Ob ich da seine Postbank drauf machen könne und "seine" Sachen aus dem Internet im Wohnzimmer. Ich erkläre ihm zum wohl 25. Mal, dass das überhaupt kein Problem ist, weil "seine Sachen" alles Seiten im Internet sind und die Übertragung seiner Bookmarks eine Sache von wenigen Minuten ist. Ich weiss, dass ich ihm das noch weitere 25 Mal erklären kann und er es trotzdem nie verstehen wird. Er lebt in einer anderen Welt. Bei ihm ist die Zeit irgendwann in den Achtzigern stehen geblieben. Manchmal, wenn es mir scheiße geht, beneide ich ihn darum.
Ich verspreche ihm das Laptop mit einem Linux auf Vordermann zu bringen und es dann in seiner Küche aufzubauen. Er verspricht mir, dass er mir Tabak mitbringt, wenn er das nächste Mal mit dem Roller nach Luxemburg fährt. Vor Jahren habe ich immer 25 € verlangt, wenn ein Nachbar sein XP mal wieder zerschossen hatte (was gefühlt alle zwei Wochen war), aber das ist lange her. Mit den meisten meiner Nachbarn habe ich keinen Kontakt mehr, ich kann ihre Weltsicht und ihre Art nicht mehr ertragen. Und sie meine auch nicht. Kein Verlust.
Von meinem Lieblingsnachbarn will ich kein Geld. Er hilft mir wenn ich mal wieder kein Brot habe, oder keinen Strom. Ich helfe ihm wenn er mit der modernen Technik (Handy, Computer, LCD-Fernseher usw.) nicht klar kommt.

Nach einer halben Stunde verabschiedet er sich. Ich erwähne beiläufig an der Tür, dass ich mir jetzt erst einmal Frühstück machen werde. Er lacht und sagt er habe schon vor Stunden zu Mittag gegessen. Ich erzähle ihm, dass ich erst nach fünf ins Bett kam. Er meint da sei er schon fast aufgestanden. Er ist eine Lerche, ich eine Eule. Alles kein Problem. Wir lachen beide und ich schließe die Tür.
Zum Frühstück gibt's Kaffee und Brötchen von Samstag. Nicht gerade ein Frühstück für Champions, aber immerhin. Ich öffne meinen Browser und überfliege die Nachrichten. Tsipras ist zu Besuch bei Putin. Da kann die deutsche Presse gleich zwei Säue auf einmal durchs Dorf treiben. Und tut das auch. diepresse.com titelt: Wie Putin Tsipras ködert. Der gerissene Putin und der unfähige, dumme Linke aus Griechenland. Mir reicht's da schon.
Die Tage habe ich irgendwo gelesen, dass man beim Thema Griechenland die deutsche Presse besser ignorieren und sich in ausländischen Medien informieren soll. No shit, Sherlock. Ich wechsle zur Seite des Guardian und weil ich keinen Bock mehr auf Politik habe lese ich den Artikel "How not to talk to someone with depression". Guter Artikel, aber die Kommentare deprimieren mich (go figure). Ich blättere virtuell weiter auf einen Artikel über Terry Pratchetts letzten Roman, der im September posthum erscheinen soll. Das Buch kommt auf meinen mentalen Wunschzettel, aber da sind noch mindestens 25 andere Bücher von Pterry drauf und ich komme vor lauter Scheiß im Internet lesen einfach zu wenig zum lesen von guten Büchern.
Ein kurzer Besuch bei Fefe bringt meine Gedanken von der Scheibenwelt unsanft zurück auf den harten Boden der Realität.

Polen ist scheinbar drauf und dran die Mauer wieder aufzubauen. Nur diesmal nicht an der Spree, sondern an der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad. Sie fangen schon mal mit ein paar Wachtürmen an. Kann man so machen.
Oh, und die NSA hat extra Porno-Zimmer. Ich denke da gucken sie sich wahrscheinlich die ganzen dick-pics und tit-pics an, die sie von ihren Bürgern abgeschnorchelt haben. Die Analysten beklagen sich, dass der stundenlange dienstliche Porno-Konsum auf Dauer monoton würde. Die Armen könnten einem beinahe leid tun.
Die AfD hat Geldprobleme (Mein Mitleid hält sich auch da schwer in Grenzen) und Italien ist jetzt hochoffiziell wegen Folter bei den G8-Protesten 2001 verurteilt worden. Im weißen Haus ist der Strom ausgefallen. (Choo-choooo! Der Wayne-Train fährt ab, nächster Halt: Mount Whateverest)
Ach und wo wir eben bei Polen waren: rt.com berichtet, dass ein polnischer Radiosender Transkripte eines Flugschreibers ausgewertet hat, die beweisen sollen dass die Politiker Kaczinski & Co. selbst schuld am Absturz ihrer Maschine 2010 waren, weil sie den Piloten unter Druck gesetzt haben trotz Nebel eine Landung zu versuchen. Mich beschleicht der leise Wunsch etwas ähnliches solle der Merkel und ihrem Horrorkabinett widerfahren und ich schäme mich kurz dafür.
Zum Schluss lese ich noch den Artikel des Mogis e.V. und den Post von Malte Welding zum Thema Sexualstrafrecht, den Fefe empfiehlt, quasi als Abschluss seiner Thementage. Beim Lesen nicke ich mehrfach zustimmend und beginne mich zu fragen, ob heute wirklich ein guter Tag ist.

Ich beschließe, es für den Moment gut sein zu lassen mit den News und sehe mir das Video mit dem Snowden-Interview von John Oliver an. Fefe hatte recht. Ganz großes Kino. Ich hatte auch recht. Die NSA guckt sich tatsächlich in ihren Pornoräumen die dick-pics von mehr oder weniger unbescholtenen Bürgern an. Und die sonst dem Thema NSA-Überwachung so indifferent gegenüber stehenden Amis sind ein bisschen empört. Na immerhin, denke ich mir, gehe ans Fenster und blinzle in den hellen Nachmittagshimmel. Es ist jetzt kurz vor vier und die Sonne scheint in Strömen. Ein Blick auf das Wetter-Widget auf meinem Desktop verrät mir, dass es draußen 15° hat. Einer meiner Nachbarn hantiert eine Etage tiefer im Garten mit einer Kettensäge. Das ist schon der zweite Tag an dem er das tut. Ich denke dass es nett wäre, wenn er sich das Ding anal einführen würde. Quer.
Wieder schäme ich mich kurz. Der gute Tag droht zu einem schlechten Tag zu werden.

Um das zu verhindern entscheide ich vor dem Mööp-möööööööp der Säge zu fliehen und eine kleine Tour mit meinem frisch restaurierten Rennrad zu machen. Das Telefon klingelt. Es ist meine Liebste und sie erzählt mir von ihrem eher mittelprächtigen Tag und ihren Problemen mit [okay, hier muss ich die Schere ansetzen, da ich nicht sicher bin, ob es ihr recht ist wenn ich über ihre persönliche Situation hier öffentlich schreibe] erzählt. Ich sage ihr dass es mir gut geht und ich gleich ein wenig Rad fahren werde. Ich erzähle vom Besuch des Nachbarn. Das Telefonat mit ihr hebt meine Laune wieder an. Es ist schön jemanden zu haben dem man so belanglose Dinge erzählen kann und die einem das Gefühl gibt dass man interessant ist. Von meinen Fantasien über die analen Freuden meines anderen Nachbarn erzähle ich ihr nicht.
Wir verabschieden uns voneinander und ich ziehe mir radgerechte Klamotten an. In den Rucksack packe ich mir was zu trinken, meinen Schmierblock und das Terry Pratchett Buch, das ich im Moment lese. Ich setze meine Kopfhörer auf. Toxicity von System of a Down. Gute Fahrrad-Musik. Auf dem Weg nach unten auf die Straße sehe ich Gott sei dank niemanden und entkomme dem Kettensägenmassaker ohne menschlichen Kontakt.

Weil ich nicht gerade der fitteste Mensch der Welt bin fahre ich am Fluss entlang, da gibt's nicht so viele Steigungen. Dafür aber jede Menge andere Leute, die von Frühlingsgefühlen nach draußen getrieben wurden. Ich klingele mich an Muttis mit Kinderwagen und älteren Herrschaften mit Hunden vorbei, bis ich schließlich aus der Stadt heraus bin und in Ruhe vor mich hin strampeln kann. Nach acht Kilometern mache ich an einer Bank Rast und überlege ob ich mein Buch auspacken soll. Ich entscheide mich dagegen und genieße stattdessen ein paar Minuten die warme Frühlingssonne und das Lied Chop Suey. Weil das Wetter schön und ich gut gelaunt bin, mache ich ein Foto. Anschließend fahre ich zurück. Ich bekomme langsam Hunger. Und Lust etwas zu schreiben.
Heute ist ein guter Tag.

P.S. Es stimmt, dass Bewegung bei Depression helfen kann. Sie hilft nicht gegen Depression, kann aber genug Endorphine oder was auch immer freisetzen, um an einem guten Tag für kurze Zeit alle Probleme und Sorgen verblassen zu lassen. An einem schlechten Tag kann sie mir aber nicht helfen (YMMV), weil ich es dann kaum schaffe aufs Klo zu gehen, geschweige denn mich aufs Rad zu setzen und durch die Gegend zu eiern. Insofern bin ich froh, dass heute einer der guten Tage ist und das die schlechten Tage in letzter Zeit seltener werden. In dem Zusammenhang möchte ich auch meiner Freundin danken, fürs einfach da sein. Danke Schatz.

6 Kommentare:

  1. Hey, Dude!

    Heute ist auch für mich ein guter Tag.
    Der dann abgerundet wurde durch die Lektüre dieses Textes.
    Du hast mich schmunzeln lassen - und das ist eine nicht unbeträchtliche Leistung!
    Ein Schmunzeln, was warm, herzlich und verbunden ist.

    Heute hast DU den Bären gefressen, Dude. ;-)

    Liebe Grüße vom Namensvetter und Langschläferkollegen

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    1. :-) Dude, es kann ja nich immer alles doom & gloom sein. Lieben Gruß zurück.

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  2. https://www.youtube.com/watch?v=1R07cCydCeY

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  3. Nähe, die nicht erdrückt, Distanz, die nicht entfremdet, Freiheit, die nicht verletzt.Ein Mensch vor dem man laut denken darf.Stille die nicht unangenehm ist, sondern friedlich und tröstend Verständnis, weil wissend......nicht nur an guten Tagen...Diese Geschenke vielleicht deshalb......Danke :-)

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